Friday, November 11, 2011

Abenteuerland Nepal: "Ellens Angst"

Bin nach einer wunderschönen 12tägigen COLIBRI TRAVEL Tour durch mein Nepal wieder dabei beim National Novel Writing Month (NaNoWriMo), mit dem ich im Kölner NaNoWriMo-Team um Michael Lüdeke im Oktober 2007 auf der Frankfurter Buchmese gelesen habe (damals: "Die Tagebücher des Tom Traveller"). Diesmal: "Ellen's Angst - oder: Der Schuppenwurm"

ZITAT:

Es ist ein ruhiger, kristallklarer und sonniger Novembermorgen, dieser warme 11. November 2011 am eher beschaulichen Flughafen von Kathmandu mit den scharfen Konturen der strahlend weissen Sechs-, Sieben- und Achttausender direkt vor der kleinen Reisegruppe mit gefühlten wie wirklichen 30 Grad Celsius auf etwa 1.300 Metern über dem Meer. Es ist ihr erstes Mal.

“Was?“ - „Wohin?“ - „Mount Everest?“ - „Bist du wahnsinnig?“ - „Das ist doch die Todeszone...!“

So oder so ähnlich müssen die liebenden Worte seiner Freundin Ellen bei ihrem letzten gemeinsamen Frühstueck in Köln am Rheinufer geklungen haben. Er erinnert sich gut. Es war ein trüber, verregneter Freitagmorgen Ende Oktober, also gerade einmal vor drei Tagen. Zehn Grad Celsius. Nieselregen. Gefühlt wie wirklich. Keine Sicht auf Nichts. Nicht einmal auf den Rhein.

Die allerletzte SMS seiner Liebsten liest er an diesem herrlichen Novembermorgen in Kathmandu am Tribhuvan International Airport. In unüberhörbaren Grossbuchstaben schreibt ihm seine Ellen: „KOMM SOFORT ZURÜCK! - BITTE!! - ICH LIEBE DICH!!!“

So viele Ausrufungszeichen hat sie ihm ja noch nie in einer einzigen SMS geschrieben. Er besteigt mit zwölf äusserlich unerschrocken wirkenden Abenteurerinnen und Abenteurern die winzige zweimotorige Twin Otter. - „Made in Switzerland“ steht beruhigend und in unübersehbar grossen Lettern vorne drauf. Dieses mechanische Ding sollte also doch etwa so zuverlässig funktionieren wie ein Schweizer Uhrwerk. Er ist irritiert ueber Ellens Angst um ihn und schaltet zu seiner und der anderen Fluggäste Sicherheit das Handy vorsichtshalber aus.

So sind die Vorschriften im internationalen Flugverkehr.

Daran muss auch er sich halten.

Liebe hin oder her.

Es ist wunderschön. Unter ihnen liegen kleine Siedlungen von jeweils zehn oder zwanzig Ziegelhäusern auf den 3.000 Meter hohen Hügeln. In die steilen Berghänge des Vorgebirges sind kunstvoll unzählige Terrassen mit maisgelb und reisgrün schimmernden Feldern angelegt. Hier wachsen und gedeihen Mangos, Bananen, Orangen, Zitronen, Äpfel, Möhren, Mais, Reis, Weizen, Hirse, Gurken in allen Grössen und Formen, Auberginen und vieles mehr. Das weiträumige Kathmandutal ist ein warmes, fruchtbares und immergrünes Hochtal auf 1.300 Metern über dem Meer.

Mit leichtem Ohrensausen, aber schwerem die Ohren betäubendem und nur durch einen Wattepfropfen etwas gedämpften Fluglärm der Twin Otter, befinden sich die 12 deutschen Nepal-Abenteurer in dieser Nussschale mit Flügeln auf dem windigen Weg nach Lukla, 2.800 Meter ueber dem Meer am verheissungsvollen und lange ersehnten Tor zum Mount Everest, dem höchsten Berg der Erde. Immerhin hat dieses Ding zwei Motoren. Wenn da mal einer ausfällt ist das ja noch kein Unglück. Ein Stubenhocker war er ja sowieso noch nie. Das sollte seine Ellen nach sieben gemeinsamen und glücklichen Jahren eigentlich wissen.

Was hat er nicht schon alles über diese extrem kurze Piste gehört und gelesen.

Von „Hillarys Leuten“ vor vielen Jahrzehnten mit 15 oder 20 Prozent Steigung weniger als 500 Meter kurz einer flachen Sprungschanze ähnelnd in den Berg gehauen. - Wer hat das jemals nachgemessen? - Fest steht: Hier müssen alle durch. Jede Everest Expedition, die von Nepal aus startet. Jede Trekking-Gruppe vom DAV Summit Club, der Bergsteigerschule des Deutschen Alpenvereins, Hauser Exkursionen, Diamir, Djoser- oder Wikinger-Reisen - der gut einwöchige Fußweg von Jiri nach Lukla ist vielen Teilnehmern von Gruppenreisen zu lang - Fest steht allerdings auch: Jeder Pilot hat in Lukla nur einen einzigen Versuch! Ob beim Start oder bei der Landung. Es muss beim ersten Mal klappen.

Cool.

Ein Durchstarten oder gar ein Abbruch des einmal eingeleiteten Landeanfluges ist wegen der Topographie und der Lage der nicht ungefährlichen - die Piloten sagen "anspruchsvollen" - und mit weniger als 500 Metern eben zudem extrem kurzen Start- und Landepiste völlig unmöglich.

Soviel dazu.

Der immer noch sonnendurchflutete, wolkenlose Himmel Nepals mit Tibet im Norden und Indien im Süden ist jetzt im November kristallklar und kobaltblau.

Dann kommt er, der spektakuläre und vielbeschriebene Landeanflug auf Lukla, bei dem am 8. Oktober 2008 12 deutsche Touristen einer Reisegruppe von Hauser Exkursionen in München tödlich verunglückten.

Sie fliegen in ein sehr enges Tal, nur wenige hundert Meter breit. An drei Seiten, links, rechts und direkt vor ihnen befinden sich gigantische Felsformationen. Weit unten presst ein schmaler, milchiger Fluss, der von hier oben wie ein Rinnsal wirkt, sein Wasser durch düstere, unwegsame Schluchten.

Die kleine Twin Otter fliegt ploetzlich ein scharfe Rechtskurve. Dann taucht sie wie ein Adler, die Beute fest im Blick im Sturzflug steil nach unten auf diesen kurzen, schmalen Streifen zu. Eine letzte Kurve, eine allerletzte Kurskorrektur und Tom kramt mit zitternden Händen sein Handy hervor um doch noch eine allerletzte SMS an seine Ellen in Köln zu schicken, in der stehen sollte: „ICH LIEBE DICH AUCH! - KÜMMER DICH UM DIE KINDER!! - VERZEIH MIR BITTE!!! - DEIN TOM“

Für einen kurzen Moment ist er erleichtert und fühlt sich schwerelos wie ein Adler. Er sieht dem, was da in den vor ihnen liegenden Sekunden des Landeanflugs auf diese Winzigkeit von Lukla, dem letzten Flughafen vor der Todeszone, auf sie zu kommt, gelassen entgegen. Er ist gefasst, eins mit sich und sieht tief hinunter.

Ins Nichts.

Durch die bullaugenähnlichen Fenster der Twin Otter (er erinnert sich dunkel: „made in Switzerland“) sieht er viele hundert Meter tief unter ihnen ein unendliches, nur sehr schwer zugängliches dunkles Tal, das ihn an Shangri - La, den Ort vollkommenen Glücks erinnert, mit diesem hauchdünnen weissen Faden aus Gletscherwasser.

Er guckt bei einer Landung ja immer gerne aus dem Fenster um zu sehen, dass auch alles so abläuft wie es bei einer - noch so schwierigen - Landung ablaufen muss: Nase nach unten, Flughafen oder Landepiste anpeilen, Landeklappen raus, erst ein wenig, dann etwas mehr, dann ganz. Trimmen. Allmählich langsamer werden, aber nicht zu langsam. Nase nach oben. Nase nach unten.

Dreissig Fuss, zwanzig Fuss, zehn Fuss...,

Es können nur noch wenige Sekunden sein bis zum ultimativen „touch down“ und dem höchstwahrscheinlichen Zerschellen ihrer heftig nach links und rechts, rauf und runter schlingernden Blechkiste. Es sind die unberechenbaren Fallwinde, die dem Piloten zu schaffen machen. Da sieht er im Display: Kein Netz! Auch das noch. Was gäbe Tom in diesem Augenblick um ein Netz. Ein Netz, in dem er weich und sicher landen koennte wie in Buddhas, Allahs oder Abrahams Schoss.

Er schliesst fest und final die Augen, drückt sich selber noch einmal die Daumen, schickt ein letztes Stossgebet zu allen, die ihm in diesem Moment einfallen, zu Allah, Benedikt, Buddha, dem Elefantengott Ganesh, Gott Vater, Jesus Christus, der Mutter Maria, Shiva, Vishnu & Woitila und wer ihn sonst noch so alles in dieser äusserst prekären Lage hören und behuüten könnte. Wenn jemand im Universum vernetzt und jetzt hoffentlich auf Empfang ist, dann doch DIE!

Er betet und wartet. Betet und wartet. Wartet. Betet, was das Zeug hält. Ist bereit. Er ist vorbereitet. Auf alles. Alles, was ist. Alles, was kommt: "Oh, bitte gebt mir jetzt ein Netz...!"

In diesem ewigen, unendlichen und nicht enden wollenden Moment denkt er ein letztes Mal in Richtung Pilotenkanzel vor sich hin: „Zieh die Nase hoch, Mann. Nase hoch!“

Tom fällt in eine tiefe Ohnmacht.

Thursday, November 10, 2011

Happy Landing!

"Happy Landing!" säuselt On, die hübscheste alles süssen Stewardessen der Singapore Airlines Tom ins Ohr, als sie ihm seinen Platz in der Business Class mit einer leichten Verbeugung, einem perlenden Glas Champagner, einer Praline aus Brüssel und dem mildesten Lächeln der Welt zuweist.

Er betrachtet eine Weile ihren perfekten Körper unter der eng anliegenden Uniform der Airline während sie seine Ledertasche, die vollständig mit historischen Kofferaufklebern des Raffles Hotels Singapore beklebt ist, mit asiatischer Anmut in das Gepäckfach ueber seinem Sitz schiebt. Wie konnte er in dieser Schokoladenminute ahnen, dass "On Air" wie er die Stewardess spaäter schelmisch nennen würde, ihn Sylvester 2001 ins Hotel de Crillon in Paris einladen würde. Wie konnte er jetzt wissen, dass dieses Sylvesterfest in Paris sein Leben komplett durcheinanderwirbeln und ihn an den Rand eines tiefen Abgrundes bringen wuerde.

- "You travel a lot?" flötet On ihm ins Ohr während sie seinen Sitz zum Start in eine aufrechte Position bringt. Dabei berühren drei Finger ihrer rechten Hand leicht seine rechte Schulter und sie schaut ihm tief und lange in die Augen. Tom erwidert ihren Blick. Und lächelt zurueck. Er hat ein gutes Gefühl im Bauch. Seine guten Kontakte zum Al Thani Clan, der das Scheichtum Katar im Persischen Golf liberal beherrscht, haben ihm einen richtig fetten Auftrag beschert. Tom hat mitgeholfen, den Sender Al Jazeera - Die Insel - aufzubauen und nun mit seinem Kölner Team21 die herausfordernde Aufgabe übertragen bekommen, "Dohaland" in der Wüste Katars zu bauen, einen 8 Milliarden Dollar teuren Vergnügungs- und Freizeitpark mit gewaltigen Wasser- und Schneelandschaften!

Tom liegt in der Badewanne und denkt nach.

Über das Leben.

Süß ist es.

Er betrachtet seine Füße.

"Du hast schöne, zufriedene Füße", hat Ellen eben noch gesagt. Süß ist sie. Tom hat ihr nicht erzählt, dass ein Kölner Orthopäde seine Fuesse einmal ganz nüchtern mit "Grösse 44, Senk- Platt- und Spreiz" beschrieben hat.

Wenn er nun seine Füße, die links und rechts neben der kalt glänzenden Edelstahlarmatur auf dem Wannenrand ruhen, einer sehr sorgfältigen Prüfung unterzieht, muss er allerdings Ellen recht geben. Seine Füße sind schön!

Ihm gefaellt die schlanke, leicht geschwungene Form mit den ausgeprägten, aber sanften Rundungen der Knöchel und Zehen. Ja, seine Füße, die in den vergangenen Wochen schokoladenbraun geworden sind, signalisieren dem Kopf, der auf dem gegenüberliegenden Wannenrand liegt:

Hey, du bist zufrieden!

Tom hat spekuliert. Tom hat gewonnen. Mit superriskanten Call-Optionen hat er nach einer scheinbar endlos langen Talfahrt des US Dollar spontan auf einen steigenden US Dollar gewettet. Und so kommt es. Er hat seine Call-Optionsscheine vor zwei Wochen gewinnbringend verkauft. Sein Einsatz von 20.000 Dollar ist im handumdrehen mehr als verzehnfacht worden. 200.000 Dollar. Easy money. Wie geil. Wie grell. Wie galaktisch!!

Kasino-Kapitalismus nennt es Ellen.

Tom neigt jetzt ohne besondere Anstrengung den Kopf leicht zur Seite, blinzelt ein wenig, laesst die Augen langsam forschend hin und her wandern und haelt dann ruhig inne. So geniesst er durch den seidenen Schleier seiner starken Kurzsichtigkeit, die den tropischen Badepavillon, in dem er sich befindet, wie mit einem Weichzeichner verfremdet, Ellen’s dunkelbraunen, schlanken Körper hinter der Glasscheibe.

Er hat Ellen in Boom`s Cafe auf Koh Pagnan kennengelernt. Mit ein paar Whisky-Cola und einem dort für seine magische Wirkung einschlägig bekannten Pilzpfannekuchen haben sie sich in einer sternenklaren Vollmondnacht in Stimmung gebracht. Es bereit ihm jetzt großes Vergnügen, sich in dem wohltuenden Gefühl der Erinnerung an eine mystische Spanne Zeit zu baden, die irgendwann auf jener südthailändischen Insel in der Abenddämmerung begonnen und bis zum Morgenrot angedauert hat.

Während das milchige, warme Wasser seinen Körper sanft liebkost, muß Tom daran denken, wie Ellens Füße - die den seinen gleichen - sich unter dem Bambustischchen am Strand mit einer weichen aber gezielten Bewegung nach vorn in den feinen, weißen Sand graben und an die Sekunde, in der ihre Zehenspitzen die Seinen berühren. Später hatten ihre Körper, die vom Alkohol und der magischen Wirkung der Pilze im Lauf der Nacht wie schwerelos geworden waren, den Weg zum Meer gefunden. Die Fischer in den Hütten aus Bambus und Lehm hatten ihr Lachen hören müssen während Ellen und Tom nackt in den nachtschwarzen Ozean hinausgeschwommen waren.

Jetzt, in der Badewanne auf Bali, verdrängt Tom das unangenehme Gefühl der Übelkeit, den leichten Schwindel und die plötzliche Enge in der Kehle, die er kurz nach dem Verzehr des Pfannkuchens verspürt hat und der betörende Zauber jener Nacht faengt ihn wieder ein und durchströmt seinen Körper. Er schliesst die Augen und saugt den Duft der Frau ein, die neben ihm duscht und deren Geruch sich mit dem des Badewassers vermischt.

Tom bildet sich ein, Gerüche sehr genau unterscheiden und selbst winzigste Spuren eines Geruches erkennen zu können. Ein Buch, das ihn fesselt und nachhaltig beeindruckt ist "Das Parfüm".

Tom Traveller erinnert sich, während er sich nun in der Wanne aufrichtet, um nach dem kühlen, süßen Cocktail zu langen, an dieses Buch der Düfte des Lebens und des Todes und daran, dass er, als er es im Nachtzug von Bangkok nach Surat Thani gelesen hat, fasziniert von der Entdeckung gewesen war, daß es möglich ist, durch die bloße Beschreibung eines Geruches diesen wirklich wahrnehmen, ihn richtig riechen zu können! So hatte er eine genaue Vorstellung von dem Gestank der Fischköpfe und dem fauligen Abwasser auf den Märkten Asiens, von dem Duft der Lavendelfelder Südfrankreichs und dem Geruch der Frauen an ihrer Scham bekommen.

In jener Zeit hat er sich oft in die Gerüche seiner Kindheit zurückversetzt und gelernt, die silbrig-schleimigen Forellen aus dem Dorfbach von Welschen Ennest mit kristallklarem, kühlem Wasser, das dahineilt durch ein Bett aus geschliffenen Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier wieder zu riechen wie auch das frische Heu und die warmen, dampfenden Kühe im Stall der Nachbarn, den Atem seiner Mutter und die Malerfarben seines Vaters.

Er zieht langsam einen Schluck der hellroten alkoholischen Flüssigkeit mit dem Strohalm in den Mund und belaesst ihn dort für eine Weile. Diese Weile reicht aus, den Geschmack von Rum, Curacao, Limonen, Orangen und Ananas zu erkennen und die Schleimhäute des Gaumens damit zu benetzen, ehe Tom das Gemisch in drei kleinen Schlücken in die Speiseröhre entlaesst.

Ellen drückt ihre Nase an die Glaswand, die Dusche und Bad voneinander trennt und sendet einen Kuß Richtung Badewanne, indem sie nun auch ihre geschlossenen Lippen an die Scheibe legt. Dabei berühren ihre Brustspitzen und ein Knie das feuchte Glas.

Tom erwidert ihren Kuß und prostet ihr zu. Er geniesst es, sie so zu betrachten. Ellen ist schlank, fast schon dünn und Meeresbiologin irgendwo in Kiel. Es erregt ihn, sie so hinter der Scheibe zu sehen, und er denkt an ihre erste Nacht im Wasser.

Es ist Vollmond. Tom hat anfangs keine recht überzeugende Erklärung für ein Phänomen, das die thailändischen Fischer (und Kieler Meeresbiologinnen : ) auf eine Algenart während einer bestimmten Meeresströmung, er eher auf die halluzinatorische Wirkung der "magic mushrooms" zurückführte. Als ihre nackten Körper in die dunkle Andaman Sea gleiten, verursacht jede ihrer Bewegungen eine Explosion von Lichterteilchen im Wasser, die wie Aquamarine funkeln, manche auch wie Diamanten oder Fischschuppen, die strahlend aufglühen um nach kurzer Zeit - vielleicht drei, vier Sekunden - wieder zu erlöschen. Milliarden von Wasser-Glühwürmchen, die bei einer Berührung all' die Energie freizugeben scheinen, die in ihnen steckt.

"Siehst Du das auch ?" fragt Ellen ungläubig verwundert und kindlich begeistert zugleich. - "Ja, ich seh' das auch", erwidert Tom, der gerade mit Armen und Beinen, Händen und Füssen eine glitzernde Korona um sich herum aufwirbelt und ein Phänomen von der Art zu sehen glaubt wie es Douglas Adams nicht besser hätte erfinden können: Zahllose fluouriszierende Wasserteilchen spiegeln das helle Mondlicht, die Milchstrasse oder ganz einfach das Universum wider. Es fasziniert Tom derart, dass er darüber beinahe Ellen aus den Augen verloren und es ihm fast - was die Aussergewöhnlichkeit dieses Ereignisses unterstreicht - die Sprache verschlagen hat.

Er hört sich schließlich im Zustand erweiterter Wahrnehmung wie aus einer großen Entfernung "geil...grell...galaktisch!" in die Nacht heraus rufen, während er Ellens Nähe sucht.

So schimmen, tauchen und flimmern beide eine zeitlang nebeneinander, ihre Haut kräuselt sich, und sie lachen und schweigen, verzaubert von der Unendlichkeit des Alls, das ihnen mit jeder ihrer Bewegungen "no limits" spiegelt, im Wasser und auf ihren Körpern, auf denen die Teilchen weiterglühen, bis sie in der warmen Luft trocknen und langsam erloeschen.

Nach Stunden unendlicher Glückseligkeit im salzigen, warmen Wasser, lassen sie sich mit der schwachen Strömung wieder an den Strand spülen. Es muß inzwischen früher Morgen sein. Kein Vogel, kein Ochsenfrosch, kein Gekko stört die Stille, als sich ihre Zehen wieder berühren und Ellens Lippen "komm" sagen. Mit einer kleinen Welle gleitet sie auf ihn.

Das Fünf-Sterne-Resort-Hotel galt unter Kennern als das wertvollste Juwel der Kette. Über 200 Quadratmeter totaler Luxus - pro Gast versteht sich - verteilt auf drei feine, kleine Pavillons aus den edelsten Hölzern der hiesigen Tropenwälder gefertigt und mit erlesenstem Marmor Europas verfeinert und von kreativen australischen Architekten lustvoll und - wie zufällig - vom Reissbrett in die grüne Hügellandschaft mit verschwenderischer Vegetation gestreut. Jeweils 40 der Pavillon-Gruppen ergaben ein Dorf. 170 balinesische Diener sorgten in jedem der vier Dörfer mit präzisem Service rund um die Uhr für exclusiven Komfort in absolut privater Atmosphäre. Ab 500 Mark pro Nacht war man dabei. Man konnte hier Wochen verbringen ohne je einen anderen Gast zu sehen. 80 Gärtner durchstreiften täglich das Gebiet, um der jungen Wildheit des von ihnen gerade erst angepflanzten Dschungels mit Buschmessern und Macheten Einhalt zu gebieten.

Es war feucht und heiß. Neben dem Badebungalow, in dem Tom Traveller soeben im Begriff war, den letzten Schluck "Mai Tai" zu schlürfen, und der Dschungel-Dusche unter freiem Himmel, in der Ellen gerade ihre Moskitostiche zählte, lag der zu jeder Villa gehörende Garten mit Wasserpflanzen, eigenem Pool, Orchideen, Farnen, Bananen, Palmen und einer Sonnenterrasse mit unvergleichichem Blick über die Bucht von Jimbaran, deren blendend weisse Strand, von seicht hereinrollenden Wellen geschaffen und schroffen Kalkfelsen gesäumt, Tom Traveller dazu inspiriert hatte, einen Roman zu schreiben.

Wednesday, November 9, 2011

Die Badewanne

Einen Roman also...

Tom hatte sich schnell mit dem Gedanken angefreundet und in den soeben verstrichenen zehn Minuten auch schon ein Konzept entwickelt. Ein Roman sollte es werden über echt fetzige Sachen, über Sex&Drugs&Rock'n'Roll. Auf jeden Fall autobiographisch. Das stellte er sich am einfachsten vor. Vielleicht würde er die Form eines Tagebuches wählen. Wer schrieb Tagebücher? Unzählige Menschen schrieben Tagebücher: Verbrecher, Heilige, Philosophen, junge Mädchen, Politiker und Schwachköpfe, zum Teil aus Eitelkeit, doch auch aus anderen, undurchschaubaren Motiven. Es mußte eine wundervoll beschwichtigende Kraft in den Wörtern liegen, die sie niederschrieben, sonst würden sich wohl kaum soviele Menschen im Umgang mit sich selbst des geschriebenen Wortes bedienen. "Die Tagebücher des Tom Traveller". Das klang gut. - Und über die Liebe. Ja, vor allem eine Liebesgeschichte sollte es werden, eine schöne Geschichte von der Liebe. Das Wort "Geschichte" sollte den Leser oder die Leserin darauf aufmerksam machen, daß - wie sehr die Eintragungen auch den Tatsachen entsprechen mochten - ein Prozeß der freien Erfindung stattfinden sollte.

Bloß...

...Tom hatte keine blasse Ahnung, wie er das alles schaffen sollte. Erstens hatte er in den vergangenen 21 Jahren noch nie ein Tagebuch geführt, und zweitens sah das alles nach verdammt viel Arbeit aus.

Der Gedanke aber, sowas wie einen Roman zu schreiben, begeisterte ihn und wühlte ihn von Grund auf. Er nahm von sich an, daß er mit ausreichenden Gaben der Phantasie und des Ausdrucks ausgestattet war. Schriftsteller. Das war´s. Was machen Schriftsteller? Schriftsteller sind viel unterwegs. Schriftsteller reisen durch die Weltgeschichte und erleben Abenteuer. Die Geschichten spielen in fernen Ländern und sind einfach zu verstehen.

Tom mußte an das Büchlein denken, das er zu seinem zehnten Geburtstag von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. „In unserer Zeit" stand auf dem Umschlag und es enthielt 15 Geschichten. Der grüne Umschlag zeigte einen Indianerkopfschmuck mit großen weißen Adlerfedern. Der Schriftsteller, von dem die Geschichten stammten, hatte, so stand es auf der vorderen Umschlagseite, ein „bewegt abenteuerliches Leben" geführt und hieß Ernest Hemingway.

So wollte er auch schreiben, dachte Tom. Diese Sprache war ihm sehr nahe, sie hatte etwas Ehrliches, Aufrichtiges, Klares, nichts Kompliziertes, keine Schnörkel, nichts von aufgesetztem, dichterischem Prunk. Sie ergab sich direkt aus der Wahrnehmung und klang so elementar, als wäre sie die Sprache der Natur. Hemingway hatte als Reporter mit dem Schreiben begonnen. Aus dem Reporter Hemingway war mit der Zeit der Schriftsteller geworden. Warum sollte es sich da mit Tom Traveller anders verhalten?

Er fragte sich, ob er wohl genügend Einbildungskraft, Beobachtungsgabe und Erkenntnisfähigkeit besäße, um eine solch komplexe Angelegenheit wie einen Roman zustande zu bringen, sorgfältig ausgewählte Wörter zu einem sinnvollen Ganzen zu fügen?

Wörter, erinnerte er sich plötzlich an einen Gedanken Joseph Conrads, waren die erbitterten Feinde der Wirklichkeit.

Wie aber sollte er dann Wirklichkeit wiedergeben?

Es war an der Zeit, den Gedanken mit dem Buch erst einmal beiseite zu legen und heißes Wasser nachlaufen zu lassen, bevor ihn das alles zu sehr beschäftigte. Also legte Tom den Gedanken mit dem Buch erst einmal beiseite und ließ heißes Wasser nachlaufen.

Aaahh!

Hier war er in seinem Element. Dies war sein Ruhepool, den er brauchte wie den Duft der Welt zum Atmen. Hier fand er Inspiration, konnte er denken, schöpfte er neue Kraft. Für ihn war ein heißes Bad in der Wanne keineswegs gedankenlose Energieverschwendung, wie es ihm hin und wieder vorgeworfen wurde, nein, nein, ganz im Gegenteil: in der Wanne tankte er auf, lud er seine Batterien, dachte er.

Ein Bad war also gedankenvolle Energiegewinnung.

Die Badewanne war Tom´s Power Station. Für Tom Traveller war eine Stunde in der Wanne Energiegewinnung von der sanftesten Art überhaupt. Und eine Wannestunde war Wonnestunde und "happy hour" in einem. Wann immer möglich, nahm er ein Bad und entgegnete auf fürsorglich gemeinte Bemerkungen Ellen’s bezüglich des Zustandes seiner Haut gerne:

"Schatz, bist du so lieb und reichst mir bitte mal meinen Säureschutzmantel!".