Wednesday, November 9, 2011

Die Badewanne

Einen Roman also...

Tom hatte sich schnell mit dem Gedanken angefreundet und in den soeben verstrichenen zehn Minuten auch schon ein Konzept entwickelt. Ein Roman sollte es werden über echt fetzige Sachen, über Sex&Drugs&Rock'n'Roll. Auf jeden Fall autobiographisch. Das stellte er sich am einfachsten vor. Vielleicht würde er die Form eines Tagebuches wählen. Wer schrieb Tagebücher? Unzählige Menschen schrieben Tagebücher: Verbrecher, Heilige, Philosophen, junge Mädchen, Politiker und Schwachköpfe, zum Teil aus Eitelkeit, doch auch aus anderen, undurchschaubaren Motiven. Es mußte eine wundervoll beschwichtigende Kraft in den Wörtern liegen, die sie niederschrieben, sonst würden sich wohl kaum soviele Menschen im Umgang mit sich selbst des geschriebenen Wortes bedienen. "Die Tagebücher des Tom Traveller". Das klang gut. - Und über die Liebe. Ja, vor allem eine Liebesgeschichte sollte es werden, eine schöne Geschichte von der Liebe. Das Wort "Geschichte" sollte den Leser oder die Leserin darauf aufmerksam machen, daß - wie sehr die Eintragungen auch den Tatsachen entsprechen mochten - ein Prozeß der freien Erfindung stattfinden sollte.

Bloß...

...Tom hatte keine blasse Ahnung, wie er das alles schaffen sollte. Erstens hatte er in den vergangenen 21 Jahren noch nie ein Tagebuch geführt, und zweitens sah das alles nach verdammt viel Arbeit aus.

Der Gedanke aber, sowas wie einen Roman zu schreiben, begeisterte ihn und wühlte ihn von Grund auf. Er nahm von sich an, daß er mit ausreichenden Gaben der Phantasie und des Ausdrucks ausgestattet war. Schriftsteller. Das war´s. Was machen Schriftsteller? Schriftsteller sind viel unterwegs. Schriftsteller reisen durch die Weltgeschichte und erleben Abenteuer. Die Geschichten spielen in fernen Ländern und sind einfach zu verstehen.

Tom mußte an das Büchlein denken, das er zu seinem zehnten Geburtstag von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. „In unserer Zeit" stand auf dem Umschlag und es enthielt 15 Geschichten. Der grüne Umschlag zeigte einen Indianerkopfschmuck mit großen weißen Adlerfedern. Der Schriftsteller, von dem die Geschichten stammten, hatte, so stand es auf der vorderen Umschlagseite, ein „bewegt abenteuerliches Leben" geführt und hieß Ernest Hemingway.

So wollte er auch schreiben, dachte Tom. Diese Sprache war ihm sehr nahe, sie hatte etwas Ehrliches, Aufrichtiges, Klares, nichts Kompliziertes, keine Schnörkel, nichts von aufgesetztem, dichterischem Prunk. Sie ergab sich direkt aus der Wahrnehmung und klang so elementar, als wäre sie die Sprache der Natur. Hemingway hatte als Reporter mit dem Schreiben begonnen. Aus dem Reporter Hemingway war mit der Zeit der Schriftsteller geworden. Warum sollte es sich da mit Tom Traveller anders verhalten?

Er fragte sich, ob er wohl genügend Einbildungskraft, Beobachtungsgabe und Erkenntnisfähigkeit besäße, um eine solch komplexe Angelegenheit wie einen Roman zustande zu bringen, sorgfältig ausgewählte Wörter zu einem sinnvollen Ganzen zu fügen?

Wörter, erinnerte er sich plötzlich an einen Gedanken Joseph Conrads, waren die erbitterten Feinde der Wirklichkeit.

Wie aber sollte er dann Wirklichkeit wiedergeben?

Es war an der Zeit, den Gedanken mit dem Buch erst einmal beiseite zu legen und heißes Wasser nachlaufen zu lassen, bevor ihn das alles zu sehr beschäftigte. Also legte Tom den Gedanken mit dem Buch erst einmal beiseite und ließ heißes Wasser nachlaufen.

Aaahh!

Hier war er in seinem Element. Dies war sein Ruhepool, den er brauchte wie den Duft der Welt zum Atmen. Hier fand er Inspiration, konnte er denken, schöpfte er neue Kraft. Für ihn war ein heißes Bad in der Wanne keineswegs gedankenlose Energieverschwendung, wie es ihm hin und wieder vorgeworfen wurde, nein, nein, ganz im Gegenteil: in der Wanne tankte er auf, lud er seine Batterien, dachte er.

Ein Bad war also gedankenvolle Energiegewinnung.

Die Badewanne war Tom´s Power Station. Für Tom Traveller war eine Stunde in der Wanne Energiegewinnung von der sanftesten Art überhaupt. Und eine Wannestunde war Wonnestunde und "happy hour" in einem. Wann immer möglich, nahm er ein Bad und entgegnete auf fürsorglich gemeinte Bemerkungen Ellen’s bezüglich des Zustandes seiner Haut gerne:

"Schatz, bist du so lieb und reichst mir bitte mal meinen Säureschutzmantel!".

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