Bin nach einer wunderschönen 12tägigen COLIBRI TRAVEL Tour durch mein Nepal wieder dabei beim National Novel Writing Month (NaNoWriMo), mit dem ich im Kölner NaNoWriMo-Team um Michael Lüdeke im Oktober 2007 auf der Frankfurter Buchmese gelesen habe (damals: "Die Tagebücher des Tom Traveller"). Diesmal: "Ellen's Angst - oder: Der Schuppenwurm"
ZITAT:
Es ist ein ruhiger, kristallklarer und sonniger Novembermorgen, dieser warme 11. November 2011 am eher beschaulichen Flughafen von Kathmandu mit den scharfen Konturen der strahlend weissen Sechs-, Sieben- und Achttausender direkt vor der kleinen Reisegruppe mit gefühlten wie wirklichen 30 Grad Celsius auf etwa 1.300 Metern über dem Meer. Es ist ihr erstes Mal.
“Was?“ - „Wohin?“ - „Mount Everest?“ - „Bist du wahnsinnig?“ - „Das ist doch die Todeszone...!“
So oder so ähnlich müssen die liebenden Worte seiner Freundin Ellen bei ihrem letzten gemeinsamen Frühstueck in Köln am Rheinufer geklungen haben. Er erinnert sich gut. Es war ein trüber, verregneter Freitagmorgen Ende Oktober, also gerade einmal vor drei Tagen. Zehn Grad Celsius. Nieselregen. Gefühlt wie wirklich. Keine Sicht auf Nichts. Nicht einmal auf den Rhein.
Die allerletzte SMS seiner Liebsten liest er an diesem herrlichen Novembermorgen in Kathmandu am Tribhuvan International Airport. In unüberhörbaren Grossbuchstaben schreibt ihm seine Ellen: „KOMM SOFORT ZURÜCK! - BITTE!! - ICH LIEBE DICH!!!“
So viele Ausrufungszeichen hat sie ihm ja noch nie in einer einzigen SMS geschrieben. Er besteigt mit zwölf äusserlich unerschrocken wirkenden Abenteurerinnen und Abenteurern die winzige zweimotorige Twin Otter. - „Made in Switzerland“ steht beruhigend und in unübersehbar grossen Lettern vorne drauf. Dieses mechanische Ding sollte also doch etwa so zuverlässig funktionieren wie ein Schweizer Uhrwerk. Er ist irritiert ueber Ellens Angst um ihn und schaltet zu seiner und der anderen Fluggäste Sicherheit das Handy vorsichtshalber aus.
So sind die Vorschriften im internationalen Flugverkehr.
Daran muss auch er sich halten.
Liebe hin oder her.
Es ist wunderschön. Unter ihnen liegen kleine Siedlungen von jeweils zehn oder zwanzig Ziegelhäusern auf den 3.000 Meter hohen Hügeln. In die steilen Berghänge des Vorgebirges sind kunstvoll unzählige Terrassen mit maisgelb und reisgrün schimmernden Feldern angelegt. Hier wachsen und gedeihen Mangos, Bananen, Orangen, Zitronen, Äpfel, Möhren, Mais, Reis, Weizen, Hirse, Gurken in allen Grössen und Formen, Auberginen und vieles mehr. Das weiträumige Kathmandutal ist ein warmes, fruchtbares und immergrünes Hochtal auf 1.300 Metern über dem Meer.
Mit leichtem Ohrensausen, aber schwerem die Ohren betäubendem und nur durch einen Wattepfropfen etwas gedämpften Fluglärm der Twin Otter, befinden sich die 12 deutschen Nepal-Abenteurer in dieser Nussschale mit Flügeln auf dem windigen Weg nach Lukla, 2.800 Meter ueber dem Meer am verheissungsvollen und lange ersehnten Tor zum Mount Everest, dem höchsten Berg der Erde. Immerhin hat dieses Ding zwei Motoren. Wenn da mal einer ausfällt ist das ja noch kein Unglück. Ein Stubenhocker war er ja sowieso noch nie. Das sollte seine Ellen nach sieben gemeinsamen und glücklichen Jahren eigentlich wissen.
Was hat er nicht schon alles über diese extrem kurze Piste gehört und gelesen.
Von „Hillarys Leuten“ vor vielen Jahrzehnten mit 15 oder 20 Prozent Steigung weniger als 500 Meter kurz einer flachen Sprungschanze ähnelnd in den Berg gehauen. - Wer hat das jemals nachgemessen? - Fest steht: Hier müssen alle durch. Jede Everest Expedition, die von Nepal aus startet. Jede Trekking-Gruppe vom DAV Summit Club, der Bergsteigerschule des Deutschen Alpenvereins, Hauser Exkursionen, Diamir, Djoser- oder Wikinger-Reisen - der gut einwöchige Fußweg von Jiri nach Lukla ist vielen Teilnehmern von Gruppenreisen zu lang - Fest steht allerdings auch: Jeder Pilot hat in Lukla nur einen einzigen Versuch! Ob beim Start oder bei der Landung. Es muss beim ersten Mal klappen.
Cool.
Ein Durchstarten oder gar ein Abbruch des einmal eingeleiteten Landeanfluges ist wegen der Topographie und der Lage der nicht ungefährlichen - die Piloten sagen "anspruchsvollen" - und mit weniger als 500 Metern eben zudem extrem kurzen Start- und Landepiste völlig unmöglich.
Soviel dazu.
Der immer noch sonnendurchflutete, wolkenlose Himmel Nepals mit Tibet im Norden und Indien im Süden ist jetzt im November kristallklar und kobaltblau.
Dann kommt er, der spektakuläre und vielbeschriebene Landeanflug auf Lukla, bei dem am 8. Oktober 2008 12 deutsche Touristen einer Reisegruppe von Hauser Exkursionen in München tödlich verunglückten.
Sie fliegen in ein sehr enges Tal, nur wenige hundert Meter breit. An drei Seiten, links, rechts und direkt vor ihnen befinden sich gigantische Felsformationen. Weit unten presst ein schmaler, milchiger Fluss, der von hier oben wie ein Rinnsal wirkt, sein Wasser durch düstere, unwegsame Schluchten.
Die kleine Twin Otter fliegt ploetzlich ein scharfe Rechtskurve. Dann taucht sie wie ein Adler, die Beute fest im Blick im Sturzflug steil nach unten auf diesen kurzen, schmalen Streifen zu. Eine letzte Kurve, eine allerletzte Kurskorrektur und Tom kramt mit zitternden Händen sein Handy hervor um doch noch eine allerletzte SMS an seine Ellen in Köln zu schicken, in der stehen sollte: „ICH LIEBE DICH AUCH! - KÜMMER DICH UM DIE KINDER!! - VERZEIH MIR BITTE!!! - DEIN TOM“
Für einen kurzen Moment ist er erleichtert und fühlt sich schwerelos wie ein Adler. Er sieht dem, was da in den vor ihnen liegenden Sekunden des Landeanflugs auf diese Winzigkeit von Lukla, dem letzten Flughafen vor der Todeszone, auf sie zu kommt, gelassen entgegen. Er ist gefasst, eins mit sich und sieht tief hinunter.
Ins Nichts.
Durch die bullaugenähnlichen Fenster der Twin Otter (er erinnert sich dunkel: „made in Switzerland“) sieht er viele hundert Meter tief unter ihnen ein unendliches, nur sehr schwer zugängliches dunkles Tal, das ihn an Shangri - La, den Ort vollkommenen Glücks erinnert, mit diesem hauchdünnen weissen Faden aus Gletscherwasser.
Er guckt bei einer Landung ja immer gerne aus dem Fenster um zu sehen, dass auch alles so abläuft wie es bei einer - noch so schwierigen - Landung ablaufen muss: Nase nach unten, Flughafen oder Landepiste anpeilen, Landeklappen raus, erst ein wenig, dann etwas mehr, dann ganz. Trimmen. Allmählich langsamer werden, aber nicht zu langsam. Nase nach oben. Nase nach unten.
Dreissig Fuss, zwanzig Fuss, zehn Fuss...,
Es können nur noch wenige Sekunden sein bis zum ultimativen „touch down“ und dem höchstwahrscheinlichen Zerschellen ihrer heftig nach links und rechts, rauf und runter schlingernden Blechkiste. Es sind die unberechenbaren Fallwinde, die dem Piloten zu schaffen machen. Da sieht er im Display: Kein Netz! Auch das noch. Was gäbe Tom in diesem Augenblick um ein Netz. Ein Netz, in dem er weich und sicher landen koennte wie in Buddhas, Allahs oder Abrahams Schoss.
Er schliesst fest und final die Augen, drückt sich selber noch einmal die Daumen, schickt ein letztes Stossgebet zu allen, die ihm in diesem Moment einfallen, zu Allah, Benedikt, Buddha, dem Elefantengott Ganesh, Gott Vater, Jesus Christus, der Mutter Maria, Shiva, Vishnu & Woitila und wer ihn sonst noch so alles in dieser äusserst prekären Lage hören und behuüten könnte. Wenn jemand im Universum vernetzt und jetzt hoffentlich auf Empfang ist, dann doch DIE!
Er betet und wartet. Betet und wartet. Wartet. Betet, was das Zeug hält. Ist bereit. Er ist vorbereitet. Auf alles. Alles, was ist. Alles, was kommt: "Oh, bitte gebt mir jetzt ein Netz...!"
In diesem ewigen, unendlichen und nicht enden wollenden Moment denkt er ein letztes Mal in Richtung Pilotenkanzel vor sich hin: „Zieh die Nase hoch, Mann. Nase hoch!“
Tom fällt in eine tiefe Ohnmacht.
No comments:
Post a Comment